Kriminelle Ausländer?
Immer wieder wird das Problem des „kriminellen Ausländers“ aufgezeigt. Dabei fällt auf, selbst Personen, welche sich selbst vornehmlich als links definieren, kommen bei der Solidarität z.B. mit syrischen Flüchtlingen an ihre Grenzen und fallen auf das geschaffene Narrativ herein.
Bereits die Wahl der Formulierung zeigt, dass wir als Gesellschaft alle per se unter Generalverdacht stellen. So sagen wir „kriminelle Ausländer“ und identifizieren damit Ausländer als das Problem, anstatt von ausländischen Kriminellen zu sprechen. Letzteres benennt in der Sprache die Kriminalität als das tatsächliche Problem. Und ja, hier können Menschen mit Migrationshintergrund vertreten sein – aber eben nicht ausschliesslich.
Mit der Veröffentlichung der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2023 rückt die Diskussion um die Kriminalität ausländischer Mitbürger:innen erneut vermehrt in den Fokus. Entwicklungen in den PKS werden dabei regelmässig und alle Jahre wieder als Beweis missbraucht, die Ausländerkriminalität als soziales Problem darzustellen.
Der AfD Einzelfallticker
Aktuell bemüht sich die AfD weiter darum aufzuzeigen, dass ein grosser Teil derer, welche nach Deutschland geflüchtet sind, kriminell seien und bezieht sich dabei auf die PKS 2022 und die polizeilichen Meldungen. Dies macht sie mit Hilfe ihres eigens dafür angelegten Einzelfalltickers, welcher angebliche Einzelfälle zählt. Hier sind im Zeitraum vom 21.02.2023 bis heute 21.04.2024 Tatverdächtige über öffentliche Meldungen erfasst worden. (vgl. Q1)
Weiter unten auf der Seite sieht man eine Darstellung der Zahlen zur Ausländerkriminalität aus der PKS 2022. Diese sind soweit korrekt. (vgl. Q1, Q3) Die Zahlen sind jedoch nur bedingt aussagekräftig, wie ich im Weiteren aufzeigen werde.
Diese Auflistung nutzt die AfD sehr gezielt, um Ausländer:innen als tendenziell kriminell darzustellen und damit für eine Verschärfung der Migrationspolitik zu werben. Dabei lassen sie es sich nicht nehmen, gegen die aktuelle Ampelregierung zu hetzen, welche angeblich den „deutschen Pass jetzt an alle Welt verschenken will“. (Q1)
Davon ist die aktuelle Regierung jedoch weit entfernt, im Gegenteil: Trotz Umsetzungen für eine bessere Integration setzt sie sich zunehmend für eine weitere Schliessung der Grenzen, sowie vermehrte Abschiebung ein.
Mit Stand 03.07.2023 veröffentliche bereits die Tagesschau hier einen Faktencheck zum erwähnten Einzelfallticker. Sie äusserte dabei berechtigte Zweifel an der Richtigkeit der Darstellung.
Tatsächlich zeigt die durch die Tagesschau durchgeführte Stichprobe der Meldungen folgendes:
Die stichprobenartige Aufarbeitung der im Einzelfallticker gemeldeten Tatverdächtigen zeigt zum einen, dass dieser Ticker nicht ausreichend in Sachen Herkunft unterscheidet, sondern einfach Meldungen aufnimmt. Die Kriterien dafür sind nicht transparent. Zum anderen zeigt sie im Gegensatz zum gewünschten Ergebnis nicht, dass Ausländer:innen in der Mehrheit tatverdächtig sind.
Eigene Stichprobe Einzelfallticker
Auch Martin und ich haben die Meldungen aus dem Einzelfallticker mittels Stichprobe geprüft. Unterschieden haben wir zwischen
Nationatlität bekannt
genannte Nationalität ist nicht deutsch
allgemeine Hinweise auf tatverdächtige Person, jedoch ohne Herkunftsnennung
keinerlei Hinweise zur tatverdächtigen Person bekannt
Insgesamt sind wir 173 Meldungen mit 171 begangenen Straftaten durchgegangen. Davon den März 2024 im Gesamten mit 62 Meldungen mit 60 Straftaten. Darüber hinaus haben wir weitere 111 Meldungen per Zufall von allen gesammelten Meldungen bis 21.04.2024 ausgewertet.
Auswertung Tatverdächtige
Bei den untersuchten 173 Meldungen kam folgendes heraus:
Bei 53 Meldungen war die Nationalität bekannt
Bei 51 war die Nationalität nicht deutsch, bei zwei Meldungen war sie deutsch
Bei 100 Meldungen gab es allgeimeine Hinweise auf die Täter:innen
Bei 13 gab es keinerlei Hinweise zu den tatverdächtigen Personen
Fünf Meldungen waren für uns nicht auswertbar, da sie hinter einer Paywall waren
In einigen Meldungen gab es Täterbeschreibungen wie 'südländischer Typ' und ähnliches. Derartige Hinweise sind kein Nachweis für Nationalität und wurden daher unter dem Punkt allgemeine Hinweise berücksichtigt.
Somit waren nicht einmal 50% der Tatverdächtigen von ausländischer Nationalität. Das diese Zahl mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Realität der tatsächlichen Straffälligkeit deutlich geringer ausfällt, zeige ich im nachfolgenden Text auf.
Die polizeiliche Kriminalstatistik
Die Veröffentlichung der PKS 2023 am 09.04.2024 hat Reaktionen ausgelöst. Sie führte zu einem regelrechten Beben im politischen Geschehen. Zentral im Vordergrund stehen bei einigen Parteien dabei die Forderungen nach Begrenzung der Migration und verschärfter Abschiebung.
Im Gesamten ist 2023 ein Anstieg der Straftaten auf einem Rekordhoch seit 2016 zu verzeichnen. Für die aktuell lauter werdenden Forderungen wird hier vor allem auf den Anstieg der Tatverdächtigen ohne deutschen Pass verwiesen. Tatsächlich entstand ein Anstieg von 17,8 Prozent auf 41,1 Gesamtprozent der Tatverdächtigen. (vgl. Q4)
An der Auslegung der jährlich erstellten PKS gibt es immer wieder Kritik. Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Kritikpunkte aufzeigen, unter deren Berücksichtigung sich ein anderes Bild der Zahlen ergibt.
Bereinigte Zahlen
Es gibt Straftaten, welche grundsätzlich nur Ausländer:innen begehen können. Darunter fallen beispielsweise Verstösse gegen das Aufenthaltsrecht und ähnliches. Diese werden aus den Statistiken bereits herausgefiltert, wodurch die Anzahl der ausländischen Tatverdächtigen sinkt. Wie aus folgenden Grafiken ersichtlich, sinkt der Anteil tatverdächtiger nicht deutscher durch diese „Bereinigung“. (vgl. Q4)
Tatverdacht
Die PKS zeigt lediglich einen Tatverdacht an. Sie sagt nichts über eine tatsächliche Schuld aus. So wird weder eine Verfahrenseinstellung noch eine nachweisliche Unschuld der Tatverdächtigen erfasst. Laut PKS 2023 wurden mit 58,4 Prozent nur gut die Hälfte der Fälle aufgeklärt. Im Jahr 2022 stehen ebenso 5.628.584 erfassten Straftaten nur 647.374 Verurteilungen (vgl. Q5) gegenüber. Anzumerken ist ebenfalls, dass 2022 die Verurteilungsquote deutscher Tatverdächtiger mit 63,1 Prozent deutlich höher liegt, als die ausländischer Tatverdächtiger mit 36,9 Prozent. (vgl. Q6)
Uneinheitliche Herkunftsnennung
Mit Stand 09.02.2021 berichtet der NDR über die uneinheitliche Herkunftsnennung von Tatverdächtigen in Polizeiberichten. Zusammen mit dem BR haben sie ingesamt 1,5 Millionen Polizeimeldungen aus sieben Jahren und rund 200 Polizeidienststellen aus zehn Bundesländern ausgewertet. Dabei fiel auf, dass die Nennung der Herkunft je nach Polizeidienststelle sehr unterschiedlich ist. Manche nennen diese fast nie, andere überdurchschnittlich häufig. Zudem wird die Staatsangehörigkeit bei Herkunftsländern von Flüchtlingen doppelt so häufig erwähnt, als bei Deutschen. Aktuelle Geschehnisse können zu sprunghaften Anstiegen in der Nennung der Herkunftsländer führen, welche später wieder zurück ginge. (vgl. Q7) Eine bundesweit einheitliche Regelung würde zu verlässlicheren Zahlen führen. Die aktuell uneinheitliche Herkunftsnennung führt zu weiteren Unklarheiten in der PKS.
Hellfeld/Dunkelfeld
Die PKS zeigt, wie sie auch selbst in ihren Veröffentlichungen anmerkt, lediglich das sogenannte Hellfeld. Dieses Hellfeld zeigt Straftaten an, welche polizeilich erfasst werden. (vgl. Q3, Q4) Das Dunkelfeld ist in vielen Bereichen, wie zum Beispiel häusliche Gewalt, Cyberkriminalität und Sexualstraftaten, extrem hoch. Gerade im Fall von Sexualstraftaten werden gerade einmal rund 1% der Übergriffe zur Anzeige gebracht, hier gibt es eine extrem hohe Dunkelziffer. (Q8) Das heisst, die PKS kann grundsätzlich nur eine mehr oder weniger realistische Annäherung an die Realität sein.
Rassistische Vorurteile führen zu falschen Verdächtigungen
Ausländer werden häufiger angezeigt und landen somit automatisch gehäuft in der PKS. So beschreibt Julia Weiß in ihrer Studienarbeit (vgl. Q9) unter dem „labeling approach“ (Q9) die sogenannte „Ettiketierungstheorie“. Mit den Begriffen „Eigen-Gruppe und Fremd-Gruppe“ (Q9) veranschaulicht sie, dass man Menschen auf Grund äusserer Merkmale einer Fremd-Gruppe zuordnet und damit dieser bestimmte Verhaltensweisen zuspricht. Dies führt dazu, dass man eher bereit ist einen Regelverstoss im Sinne einer Straftat auch tatsächlich anzuzeigen. Ebenso wird auf Grund dieser Vorurteile im Zweifel der Ausländer (welcher hier als entsprechende Fremd–Gruppe gilt) schneller als tatverdächtig bewertet, wenn zwischen Eigen- und Fremd–Gruppe entschieden werden muss. Man ist der Meinung sowieso zu wissen, dass diese soetwas tun. Selbst die Polizei unterliegt diesem „labeling approach“. So werden gewisse Personengruppen häufiger kontrolliert. Dies führt automatisch zu einer häufigeren Feststellung von Verstössen. (vgl. Q9)
Persönlich möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass dies nicht zwangsläufig bewusst geschieht. Es sind Effekte, die auf Grund unserer Sozialisierung mit der Stigmatisierung bestimmter Personengruppe entstehen und mitunter unbewusst tief in uns verankert sind.
Unter anderem gibt vorhergehende Ausführung auch eine Erklärung, weshalb deutsche Tatverdächtige häufiger verurteilt werden. Werden aus rassistischen Motiven Ausländer beschuldigt, besteht natürlich eine höhere Wahrscheinlichkeit der Falschbeschuldigung.
Gemischte ausländische Tatverdächtige
Auf den ersten Blick wirkt es sehr eindeutig, wer mit den ausländischen Tatverdächtigen gemeint ist. Bei genauerer Betrachtung fasst dies jedoch tatsächlich verschiedene Personengruppen zusammen. So werden hier geflüchtete Menschen und Menschen, die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland ohne deutschen Pass leben und integriert sind genauso aufgeführt, wie Touristen und Durchreisende. Selbst bereits Inhaftierte werden dazu gerechnet, welche für die allgemeine Sicherheit keinerlei Rolle spielen. Bereits 2016 merkte der Kriminalwissenschaftler Dr. Christian Walburg an, dass die Einbeziehung der Grenzkriminalität ebenfalls das Bild verzerrt. So hatten 2015 45,7 Prozent der Tatverdächtigen bei Autodiebstählen ihren Wohnsitz im Ausland. (vgl. Q10)
Wichtige Sachverhalte fehlen
Bestimmte andere Merkmale sind von viel grösserer Bedeutung für die Erfassung von Tatverdächtigen als die Herkunft. So spielen Alter, Geschlecht, sozialer Stand und wirtschaftliche Lage eine viel grössere Rolle für die Gefahr straffällig zu werden, als die Herkunft.
Anstieg nach Corona-Tief
Im Podcast „BR24 Thema des Tages“ weisst der Kriminologe und Strafrechtler Professor Dr. Tobias Singelnstein darauf hin, dass der aktuell verzeichnete Anstieg der Kriminalität auch eine Korrektur der letzten Jahre sei. (vgl. Q11) So merkt er an:
„Das, was wir jetzt als einen Anstieg in der Statistik sehen, ist auf eine Art auch eine Korrektur der Entwicklung in den vergangenen Jahren. Wir hatten die Corona-Pandemie, die hat für einen deutlichen Rückgang der erfassten Fälle in der polizeilichen Kriminalstatistik gesorgt.“ (Q11)
2023 sei das erste Jahr, in dem das öffentliche Leben wieder ohne jegliche Einschränkung stattfindet. So ergeben sich wieder mehr Gelegenheiten. (vgl. Q11) Das dadurch die Zahl der Straftaten ansteigt sei aus kriminologischer Sicht „erst mal keine besorgniserregende oder überraschende Entwicklung.“ (Q11)
Fazit
Die getrennte Erfassung von Tatverdächtigen in deutsche und ausländische ist sinnlos und unhaltbar. Diese fördert die Stigmatisierung von Migranten, befeuert das Narrativ der „kriminellen Ausländer“ und schürt so den Rassismus. Eine simple Aufzählung von Tatverdächtigen über den sogenannten „Einzelfallticker“ trägt nicht zu einem realitätsnahen Bild bei, sondern verschärft Vorurteile in nicht tragbarem Ausmass.
Quellenverzeichnis
Q1 – AfD Einzelfallticker, letzter Aufruf: 28.04.2024
https://www.afd.de/einzelfallticker/
Q2 – 2Reveland Carla, Sigggelkow Pascal, Zweifel an Aussagekraft des AfD-„Einzelfalltickers“, bei der Tagesschau Stand: 21.04.2024, 08:01 Uhr
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/afd-einzelfallticker-100.html
Q3 – Polizeiliche Kriminalstatistik 2022
Q4 – Polizeiliche Kriminalstatistik 2023
Q5 – Statista Research Department: Verteilung der verurteilten Straftäter in Deutschland nach Straftatbeständen 2022, Stand: 26.03.2024
Q6 – Mohr Martin, Verurteilte Straftäter in Deutschland nach Nationalität 2022, Statista Stand: 26.03.2024
Q7 – verschiedene Autoren, Polizei nennt Nationalitäten regional sehr unterschiedlich, NDR Stand: 03.07.2023, 17:00 Uhr
Q8 – Kubina Mario, BKA-Studie: Hohe Dunkelziffer bei Sexualdelikten und Cybercrime, BR24 Stand: 08.11.2022, 15:57 Uhr
Q9 – Julia Weiß Studienarbeit, 2013
Der Beitrag der Massenmedien zur Ettiketierung von Ausländern als „kriminell“
Q10 – Pross Jennifer, Ata Mehmet, Was wissen wir über Migration und Kriminalität, Mediendienst Integration, Stand: 06.07.2016
https://mediendienst-integration.de/artikel/was-wissen-wir-ueber-migration-und-kriminalitaet.html
Q11 – Kleinknecht, Anne, 8.4.2024 Podcast BR24 Thema des Tages, Sind Ausländer krimineller als Deutsche? Mit Moderator Carsten Kühntop und Prof. Dr. Tobias Singelnstein