Zeit für Vorurteile 2

Ein reales Beispiel

Gestern erreichte uns eine Nachricht aus unserem persönlichen Umfeld. Diese stammt von einem Taxifahrer, welcher mit Migrationshintergrund in Deutschland aufwuchs. Er lebt bereits fast sein ganzes Leben lang hier.

„Heute Nacht habe ich etwas erlebt, das mich tief erschüttert hat. Gegen 03:40 Uhr nahm ich zwei Fahrgäste auf - eine Mutter und ihre Tochter. Sie stiegen ein, die Tochter setzte sich auf den Beifahrersitz, die Mutter nach hinten. Die Fahrt begann wie jede andere, doch nach wenigen Metern veränderte sich alles. Die Mutter sagte plötzlich zu ihrer Tochter, sie wäre niemals alleine ins Taxi gestiegen, weil sie sich unsicher fühle.

Zunächst dachte ich, es ginge um etwas Allgemeines. Doch dann merkte ich, dass sie mich meinte.

Es waren mein Bart und meine Mütze, die bei ihr Unbehagen auslösten. Es war nicht meine Fahrweise oder mein Verhalten - es war mein Äußeres. Die Art, wie ich aussehe, reichte aus, um in ihr Angst zu schüren. Als ich verstand, dass ich gemeint war, traf es mich wie ein Schlag. Jemand hatte sich schon ein Urteil über mich gebildet, ohne mich zu kennen. Das hat mich tief verletzt, dass es schwer in Worte zu fassen ist. Ich sprach sie direkt an und fragte, ob sie sich wirklich wegen mir unwohl fühle.

Ihre Antwort war ein klares „Ja, ich habe Angst bei Ihnen im Auto". Stellt euch vor, wie es sich anfühlt, das zu hören. Jemand hat Angst, nur weil man so aussieht, wie man aussieht. Es war, als hätte sie mir den Boden unter den Füßen weggezogen, und ich war gezwungen, diese Fahrt fortzusetzen, obwohl ich innerlich zerrissen war. Doch es ging weiter. Sie wollte, dass ich meine Mütze absetze, weil „das nicht in Deutschland angebracht" sei und „nur Ausländer so etwas tragen". Ich fühlte mich, als ob ich nicht nur meine Mütze, sondern ein Stück meiner Würde ablegen musste.

Um die Situation zu entschärfen, tat ich es - aber die Verletzung blieb. Ich dachte, damit wäre der Konflikt beendet, aber dann folgte der schlimmste Moment. Mit einem eiskalten Ton sagte sie: „Ich mag keine Ausländer, und wir Deutschen werden uns unser Land zurückholen. Am liebsten würde ich sie alle von hinten anzünden." Diese Worte haben mir den Atem geraubt. Ich saß dort, hinter dem Steuer, ein Mensch, der einfach nur seiner Arbeit nachgeht, und hörte mir an, wie jemand mich am liebsten vernichten würde.

Nicht, weil ich ihr etwas getan habe. Nicht, weil ich gefährlich bin.

Sondern weil ich anscheinend anders bin. Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie das ist. Da sitzt jemand in meinem Auto, während ich ihn sicher nach Hause bringe, und spricht davon, dass ich hier nicht hingehöre, dass ich eine Bedrohung bin, nur weil ich aus einem anderen Land komme. Es war ein Moment voller Ohnmacht, Wut und tiefer Trauer. Die Tochter schwieg, ihr war das alles sichtbar unangenehm, aber sie sagte nichts mehr. Das war nicht das erste Mal, dass ich so etwas erlebt habe. Immer wieder werde ich gefragt, woher ich komme - oft in einem Ton, der mir klar macht, dass ich hier nicht wirklich dazugehöre.

„Aber Sie arbeiten ja, also ist das okay", höre ich häufig. Es ist, als wäre mein Dasein in diesem Land nur dann akzeptabel, wenn ich nützlich bin, als müsste ich meinen Platz hier ständig rechtfertigen. Doch ich bin mehr als mein Job. Ich bin ein Mensch mit Gefühlen, mit einer Geschichte, mit einem Leben, das es wert ist, respektiert zu werden.

Diese Nacht hat mir erneut gezeigt, wie tief Rassismus in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Er ist nicht nur ein fernes Problem, das wir aus den Nachrichten kennen - er sitzt neben uns im Taxi, im Bus, auf der Straße.

Er spricht uns direkt an, ohne Scham, ohne Masken. Ich weiß, viele von euch haben solche Situationen vielleicht noch nie erlebt.

Es ist schwer, sich vorzustellen, wie tief solche Worte schneiden, wenn man sie nicht selbst gehört hat. Doch ich bitte euch, für einen Moment in meine Schuhe zu treten und euch vorzustellen, wie es ist, wenn jemand euch allein aufgrund eures Aussehens so abwertet. Es ist nicht nur ein Gefühl der Trauer oder des Schmerzes - es ist das Gefühl, immer wieder aufs Neue kämpfen zu müssen, um als Mensch gesehen zu werden.

Diese Erfahrung gehört zu meinem Alltag.

Aber das macht es nicht leichter. Jedes Mal hinterlässt es Spuren, Narben, die ich mit mir trage. Und ich bin nicht allein damit. Viele von meinen Kollegen erleben solche Situationen, immer wieder. Wir werden nicht als gleichwertig angesehen, sondern als Fremde, die sich rechtfertigen müssen, warum sie hier sind. Es ist eine Last, die wir tragen, eine, die uns leise, aber beständig begleitet.

Ich hoffe, ihr versteht, was das für mich und viele andere bedeutet. Es geht nicht nur um Worte, es geht um das Gefühl, immer auf der falschen Seite zu stehen, egal, was man tut.

Heute bitte ich euch: Schaut genauer hin.

Seht den Menschen, nicht die Vorurteile.

Denn der wahre Schrecken liegt darin, dass diese Erlebnisse für so viele von uns zur Normalität geworden sind.

Danke.“

Zunächst möchten Martin und ich unser Mitgefühl ausdrücken. Wir können sicher nur im Ansatz nachempfinden, wie es sein mag, mit derartigem Hass konfrontiert zu sein – zusätzlich zum Alltagsrassismus, welchem viele Menschen ausgesetzt sind.

Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, welche realen Konsequenzen Vorurteile für Menschen haben. Auf der einen Seite, wie diese zu Angst und Hass führen. Auf der anderen Seite, wie die aus Vorurteilen resultierenden Diskriminierungen Menschen verletzen. Nachhaltig. Immer wieder.

Dieses Beispiel zeigt ebenso, dass Rassismus nicht nur Menschen trifft, welche die letzten Jahre ankamen und noch nicht integriert sind. Es trifft jeden, der in irgendeiner Form einen Migrationshintergrund mitbringt. Nur um dies zu verdeutlichen, haben wir in der Einleitung vermerkt, dass er bereits fast sein ganzes Leben in Deutschland lebt.

Daher möchten wir noch einmal betonen, wie wichtig es ist, sich mit den eigenen Vorurteilen auseinander zu setzen.

Auch ich kann mich nicht freisprechen. Ich weiss noch zu gut, wie ich nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 und den Jahren danach mit gewissen Vorurteilen und Ängsten zu kämpfen hatte. Die Medien haben ein Bild gezeichnet. Ein Bild von einer bestimmten Personengruppe. Ich kann mich noch erinnern, wie ich, so sehr ich mich auch dagegen wehrte, mich an dieser Stelle nicht von meinen Vorurteilen und den daraus resultierenden Ängsten befreien konnte. So bewertete ich Personen, welche diesem Bild entsprachen, anders, wenn sie im Zug neben mir Platz nahmen. Als jemand, die sich schon immer gegen Rassismus eingesetzt hat, war es für mich merkwürdig zu bemerken, dass diese Menschen Unbehagen in mir auslösten, wenn sie sich in meiner Nähe befanden oder ich ihnen im Alltag begegnete. Niemals hätte ich mich rassistisch geäussert und sollte ich mich unbewusst so verhalten haben, tut es mir leid. Dennoch kenne ich das Gefühl, welches in uns ausgelöst wird, wenn uns ein einfaches Feindbild präsentiert wird.

Doch ich möchte allen Menschen, welche mit Vorurteilen anderen Menschen gegenüber stehen, Mut machen sich ehrlich mit diesen auseinander zu setzen.

Wir müssen uns in die Lage versetzen unsere Vorurteile zu reflektieren. Auf andere Menschen offen zugehen, auch wenn es manchmal schwer ist. Doch auf genau diesem Wege habe ich so viele tolle Menschen kennen gelernt. Begegnungen und Erfahrungen, welche ich sonst nie gemacht hätte. Es lohnt sich für uns als Individuum. Es lohnt sich für uns als Gesellschaft. Und es lohnt sich für all diejenigen unter uns, die täglich mit den Vorurteilen und der daraus resultierenden Ablehnung konfrontiert sind.

In Europa und vor allem auch Deutschland haben wir es aktuell mit einem starken Rechtsruck zu tun. Rechtsextremistisches Gedankengut wird zunehmend Normalität. Wir dürfen nicht vergessen, dass reale Menschen die Folgen davon tragen. Wir dürfen nicht wegsehen. Nicht bei anderen. Nicht bei uns selbst.

Wir bedanken uns herzlich, dass wir diese Nachricht mit euch teilen und dazu Stellung beziehen dürfen.

Für mehr Informationen lies gerne unseren Artikel Zeit für Vorurteile oder komm in eine unserer Gruppen, wenn du dich zu dem Thema austauschen möchtest.

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